Alines Kolumne: Reise ins Träumeland

Foto: Aline Diller

Es ist 21:07 Uhr in einem Flur – Dunkelheit. Es gehen leise knarrend zwei Zimmertüren auf und heraus treten mitleiderregende zerzauste Geschöpfe mit tiefen kleinen müden Augen. Die Blicke treffen sich und es muss (und darf) nicht gesprochen werden. Auf Ninja-Sohlen schleichen sich die Gestalten die knarrende alte Holztreppe hinunter. Unten angekommen wird das Licht angemacht, der frisch verlassene Abendessentisch wartet ungeduldig endlich abgeräumt zu werden. Zerkaute Karottenstücke, dicke Grießbrei- und Apfelmus-Platscher, Spitzerdreck, drei Buntstifte, neun Murmeln, eine Gummischlange, Socken und die Krümel von Toast starren einen vom Boden an. Die Gestalten gehen wortlos an die Arbeit, denn sie wissen, es gibt kein Sofa ohne gedeckten Frühstückstisch.

Wer kennt sie nicht diese müden Gestalten die nachts auf leisen Sohlen durchs Haus schleichen. Nein, es sind leider keine Wichtel, die nachts für uns das Nötigste erledigen. Ich würde ihnen wirklich ein wunderschönes Häuschen einrichten und für Kost und Logis sorgen, wenn sie bei mir anklopfen würden. Jemand Lust? 

Romantisches Abendessen zu fünft?

Jeden Abend ist es soweit. 18 Uhr: „Kinder, es gibt Abendessen!“ „Waaas? Jetzt schon? Ich hab grad erst angefangen zu spielen!!!“Bis dann alle mehr oder weniger freiwillig am Tisch sitzen ist schon sehr viel Energie verbraucht. Das Abendessen ist das meist gefürchtete Essen von uns Eltern. Klingt verrückt, ist aber so. Früher habe ich mir das immer sehr schön und romantisch vorgestellt. Eine glückliche Familie sitzt bei Kerzenschein am Tisch, es wird ein Tischspruch gesagt, sich guten Appetit gewünscht und dann wird reihum von seinem Tag erzählt. Ja, vielleicht ist das bei manchen Familien so. Bei uns herrscht beim Abendessen derzeit aber noch eher eine Art Krisensituation. Ich bin ja der Meinung, dass der „Fehler“ meist irgendwo bei der Umsetzung, also bei den Erwachsenen zu suchen ist, aber wir haben schon so vieles probiert und die Abendessen Situation ist und bleibt chaotisch. Egal auf welchen Stühlen die Kinder platziert sind, sie hängen daran, liegen darauf. Egal welches Essen, es wird von mindestens einem Kind abgelehnt.

Egal wie oft und reihum wir Kerzen anzünden, es ist immer unfair. Egal wie sehr du die Gläser fokussierst, eines fällt um. Egal wie kurz du wegschaust, ein Kind ist immer plötzlich weg vom Tisch. Egal wie oft das Kind gesagt hat, dass es Hunger hat, nach einer Karotte ist es plötzlich satt. Egal wie gleich groß die Portion ist, es ist unfair. Egal wie oft du studiert hast, welches Kind welchen Teller und welche Gabel haben möchte, es wird das Falsche sein. Egal wie schnell du rumrennst um Dinge aus der Küche zu holen, es wird zu langsam sein. Egal wie oft du sagst, es gibt danach nichts mehr, die Kinder werden im Bett sagen, ich hab Hunger. Egal wie oft du eingeführt hast, dass alle vorm Essen nochmal aufs Klo gehen und Hände waschen, es wird nicht passieren. Egal wie alt die Kinder sind, du wirst ihnen doch das Brot schmieren, da die Zeitlupenschleife, in der sie sich befinden, dich in den Wahnsinn treibt. Egal wie oft man sagt bleib auf deinem Teller, mindestens ein Kind streckt sich mit dem Wollpulli über das Honigbrot, um sich beim Bruder was zu erhaschen. Egal wie oft du sagst es ist mir zu laut, es wird vom Lärm verschluckt. Egal wie oft du Rituale versuchst einzuführen, in diesem Moment ist alles so stressig und anstrengend, dass alle Rituale über Bord geworfen werden.

Wir sind hilflose Oktopusse

Das Abendessen ist die Zeit in der mein Mann und ich uns fühlen, als wenn wir hilflose Oktopusse wären. Tausend Arme aber doch für alles zu langsam. Die Kinder sind aufgedreht und müde zugleich, wir Eltern sind erschöpft und haben unsere To-Do-Liste für den Abend noch im Hinterkopf. Es treffen sich so viele verschiedene Bedürfnisse an einem Tisch, wie soll das romantisch sein? Es ist laut, lebhaft, chaotisch, witzig und manchmal zum Heulen anstrengend. Aber vielleicht ist es das Bild in meinem Kopf, das ich ändern muss. Vielleicht sollten wir uns einfach zum Picknicken auf einer Decke unter dem Tisch verabreden und dabei auf alle Regeln verzichten. Vielleicht geht es mit mehr Leichtigkeit? Let’s try this.

Nach dem Abendessen geht‘s dann weiter im Programm, drei Kindern den Schlafanzug anziehen und eventuell vorher noch ein bisschen Körperhygiene. Theoretisch können das 2 von 3 schon sehr gut alleine, praktisch passiert aber alles andere außer, dass der Schlafanzug am Kind landet. Dann Zähneputzen, die Zahnärztin hat uns nochmal versichert, dass wir allen dreien noch die Zähne putzen müssen. Okay. Unser Bad hat ca. 3qm Fläche, wie das dann aussieht dürft ihr euch selbst vorstellen. Alle nochmal auf Toilette bitte. Dann endlich der große Zeitpunkt: Sechs Füßchen rennen die Treppe hoch und wuseln in die Betten. Die Großen schlafen zusammen in einem Hochbett auf einer 1,40m Matratze.
Das Küken darf noch ins Elternnest. Die Eltern teilen sich auf. Oben auf den Wecker geschaut: Waaas? Schon 20 Uhr? Jetzt aber schnell! 

„der atmet zu laut!“

Ja klar.. schnell.. Wäre da nicht noch das Bett Ritual: Geschichte lesen, (manchmal zusätzlich erfundene Geschichte erzählen, na klar!) Lied singen und solange kraulen bis Kind eingeschlafen ist. Und dann kommen da noch all die „unvorhergesehenen Dinge“. Ich schätze, das ist für alle Eltern Neuland, deshalb nochmal für euch: Hunger, Durst, muss Pipi, Bauchweh, mich juckt es, der atmet zu laut, es ist zu heiß, die Decke zu dünn, die Decke zu dick, die Wärmflasche zu warm, das Kissen zu flach, die Geschichte zu kurz, das Lied zu leise, das Nachtlicht zu dunkel, ich hab Angst, ich kann nicht schlafen, ich bekomme böse Träume, ich will jetzt endlich eine Katze, der in der Schule war heute blöd, welcher Tag ist morgen, ich bin aufgeregt, ich will dir noch ein Witz erzählen.“ Natürlich alles Gefühle und Bedürfnisse, die begleitet werden wollen und die wir sehr tapfer emotional unterstützen, wie ich finde, aber es ist jetzt nach über acht Jahren tägliche Einschlafbegleitung wirklich zermürbend. Freunde erzählen, dass ihre Kinder vom Hörbuch hören einschlafen. Wir haben es mehrfach probiert, sie sind bis 1 Uhr wach, wenn wir das machen. Ohne Hautkontakt kein Schlaf. Das Kleingedruckte hatten wir wohl übersehen.

Wie oft ich mir noch um 17 Uhr vorgenommen habe, heute mache ich nach der Einschlafbegleitung Yoga, meine Kolumne, meine Ausbildungs-Hausaufgaben, zahle meine Rechnungen, ordne Dokumente usw. und mittlerweile muss ich mich wirklich dafür belächeln. Bedürfnis orientiert zu erziehen zahlt sich später aus, haben sie gesagt. Ich hoffe später ist bald.

Es ist 21:07 Uhr, ich komme aus dem Zimmer in den dunklen Flur und starre in die müden Augen meines Mannes. Mitleidig schauen wir uns an und schleichen die Treppe runter. Es gibt kein Sofa ohne gedeckten Frühstückstisch.


Aline

Aline Diller

Aline Diller ist Pädagogin und 3-fach Mama aus Karlsruhe. Sie schreibt über Themen rund ums Eltern-Sein.

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