Neulich bekamen wir einen Anruf im Urlaub und dann stand das Handy an den sonnigen Gestaden der Nordsee nicht mehr still. Wir beschlossen nach wenigen Urlaubstagen, sofort wieder heim zu fahren. Das fragile Gefüge von elterlicher Gesundheit, 24-Stunden-Betreuung und kindlicher Fürsorge war auf einen Schlag ins Wanken geraten. Besser gesagt in einen mittelschweren Wirbelsturm.
Schon von der Autobahn aus galt es zu beruhigen, zu trösten, Verwandte zu informieren und vor allem zu organisieren, was das Zeug hielt.
Vor Ort bei den Eltern war es wie beim Mikadospiel, kaum hatte man hier jemanden wieder halbwegs stabilisiert, fiel drüben jemand in sich zusammen und dazwischen eine mit der Situation überforderte Betreuungskraft. Dazu Krankenhausaufenthalt in Coronazeiten mit vielen Regeln, die es zu beachten galt und die einer demenziell erkrankten hochbetagten Mutter nicht nachvollziehbar erschienen. Dennoch, es waren sehr innige Wochen.
Wenn die eigenen Eltern beginnen, ihr ganzes Dasein vertrauensvoll in die Hände der Kinder zu legen, ist das ein berührender Augenblick. Wenn man miterlebt, wie sich ein Paar, das 74 Jahre zusammen lebte auch im hohen Alter von fast 94 Jahren den Anderen schmerzlich vermisst und das Glück aus jedem Knopfloch hüpft beim lang ersehnten Wiedersehen, dann steht man als Kind von Mitte 50 gerührt daneben.
Ein großer Demenzschub hatte bei unserer Mutter eine Veränderung ausgelöst, die leider nur ich als einzig erlaubte Besucherin im Krankenhaus miterleben durfte: sobald sie realisierte, dass ihr Mann nicht wie befürchtet gestorben war, hatte sie für jeden ein gutes Wort. Die etwas rundliche junge Schwesternschülerin mit dem zu ihrer Gesichtsform nicht unbedingt vorteilhaften strengen Haardutt bekam überschwängliche Komplimente über ihre schöne Frisur.
Der pakistanisch-stämmigen Assistenzärztin, die sich sichtbar verspannte, als meine Mutter resolut den Zeigefinger hob und ankündigte „Jetzt muss ich Ihnen aber etwas sagen“, zauberte sie mit der begeisterten Feststellung „Sie haben da so etwas Wunderbares über Ihren Augen“ ein Lächeln hinter die Maske. Der Zusatz „Und das ist nicht gemacht oder?“ ließ uns lauthals auflachen. Gemeint waren die schön geschwungenen Augenbrauen der jungen Ärztin.
Unser Sohn freute sich, aus der Ferne wenigstens die Stimme seiner geliebten Omi zu hören und war dann doch sprachlos, als sie ihn mit Liebesbezeugungen und Lebensweisheiten überschüttete. Als läge ihr die Seele auf der Zunge.
Weil sie nachts die Station durchwanderte und so manche Schränke aufräumte, die nicht in ihrem eigenen Zimmer lagen, nahmen sie die Schwestern so nah wie möglich zu sich. Der Schreck sitzt mir noch jetzt in den Knochen, als ich nichtsahnend das ursprüngliche Zimmer betrat und ein mit Plastik bezogenes Bett vorfand.
Nun also ein anderes Zimmer und eine neue Zimmernachbarin, die mich fröhlich mit zwei langen schwarzen Zöpfen begrüßte mit den Worten „Ich Bulgarien“. Meine Mutter war im Glück, tolle Bettnachbarin, die sie laut ihrer Aussage schon als kleines Mädchen kannte, dann ich als Besuch und als Krönung ein Video meines Vaters.
Der Tag war gerettet und die Welt voller warmer Farben. Mutti lobte fortan alles, sogar die glatt verputzten Wände und über einen Schmutzfleck an der schlecht abdichtenden Zimmertür schüttete sie sich fast aus vor Lachen „Da haben sich immer kleine Kinderhände festgehalten, bestimmt nicht ganz sauber“, war ihre Erklärung. Dazwischen gab es noch eine wortreiche Bildinterpretation des Freskos in der Krankenhauskapelle und die Idee „unbedingt dem Künstler zu sagen, wie toll er diese Frau da gemacht hat“. Gemeint war eine geschnitzte Holzmadonna.
Und dann der Umzug ins Seniorenheim, für uns alle eine schwere Entscheidung. Und wie so oft kam wieder alles anders als gedacht: Schon nach einem Tag dort verkündete sie, das Doppelzimmer sei ja eindeutig ihr Zuhause, schließlich sitze ja ihr liebes Bärli auf dem Bett, das sie schon ein Leben lang begleite. Nun fehle nur noch ihr Mann, wo der denn eigentlich sei. „Zuhause, er muss sich noch etwas erholen, schließlich war auch er schlimm krank“. Das verstand sie sofort, wo aber dieses ominöse Zuhause sei, war ihr nicht mehr klar. Demenz kann auch gnädig sein.
Inzwischen sind die beiden wieder zusammen, nach so langer Zeit ließe er doch seine Frau nicht alleine, meinte unser Vater mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Er kann jederzeit in sein Haus um die Ecke, das wir lediglich von Kühlschrankinhalten und mottenanfälligen Lebensmitteln befreit haben.
Die ersten Besucherinnen aus dem Dorf fanden auch schon den Weg durch den maskentragenden Besuchs-Dschungel und wir sind alle dankbar, dass just einen Tag nach Einzug unserer Mutter die 14-tägige Quarantäne aufgehoben wurde. Mit vielen Vorsichtsmaßnahmen tragen wir Fernsehsessel, Bilder und Bodylotions in Zimmer 311 und schleppen Oleander und Gartentischchen auf den Balkon.
Immer in der Hoffnung, dass die beiden behütet noch eine schöne Zeit miteinander haben können, ganz ohne Verantwortung. Die tragen jetzt wir und sind auch ein bisschen stolz darauf, dass wir sie vertrauensvoll übernehmen dürfen.