Mir gefällt, was der alte Seneca vor gefühlten 2000 Jahren an seinen Schüler Lucilius über den Sinn und Unsinn der damaligen Philosophieschulen schrieb. Non vitae sed scholae discimus, diese antike Verballhornung des berühmten geflügelten Wortes schießt mir ab und an durch den Sinn, wenn ich mit Kindern über ihren Schulalltag spreche.
Und manches Mal scheint es mir, dass sich seit meiner Schulzeit und der unserer Kinder nicht wirklich etwas an der Vermittlung der Inhalte geändert hat.
Gut, es wird sehr viel mehr Wert auf freie Präsentation gelegt und schon die Kleinsten beginnen damit, ihre Lieblingsbücher der Klasse vorzustellen. Das ist perfekt!
Wenn ich an meinen nervösen Magen, die schwitzigen Hände und die Klangfarbe meiner Stimme beim ersten Vortrag in der Uni denke, treibt es mir heute noch die Schamesröte ins Gesicht. Das Timbre meiner Stimme glich einer Mischung aus hysterischer Opernsängerin und schlimmster Stimmbruchphase eines pubertierenden Knaben. Mit der Ausatmung klappte es nicht mehr und ich wähnte mich in einem akuten Asthmaanfall. Die hektisch roten Flecken auf Gesicht und Dekolleté und das nervöse Hin- und Herwiegen meines Oberkörpers machten die Sache auch nicht überzeugender.
Vermutlich stiegen in meinen Kommilitonen Bilder eines ehemaligen Tanzbären mit Hospitalismus auf, der versehentlich ein Stromkabel zerbissen hat. Das Flattern meiner Unterlagen in meiner nicht mehr unter Kontrolle zu bringender Hand unterstützte diesen verqueren Eindruck sicher mit Macht. Noch heute, nach einer gefühlten Trilliarde Vorträgen überkommt mich ab und an aus heiterem Himmel dieses Versagensgefühl.
Wie gut, dass unsere Kinder, egal welchen Schultyp sie besuchen, da besser gerüstet sind. In diesem Punkt ist der alte Seneca also auf dem Holzweg.
Aber es bleibt genug übrig, das seine antike These unterstützt. Warum beispielsweise sollte man die Geschichts-Daten der achten Revolution lernen, wenn man noch gar nicht verstanden hat, warum Menschen auf die Barrikaden gehen? Haben Sie jemals wieder die Logarithmen gebraucht oder mussten sich im realen Leben mit einem beherzten Sprung über einen Kasten retten? Wie weit hat Sie das Kurvendiagramm über den Kohleabbau in der Ukraine gebracht oder der Zitronensäurezyklus in Biologie? Wie komplett unnötig war und ist dieses Bulimie-Lernen mit seiner Langzeitwirkung bis fünf Minuten nach der Klassenarbeit…
Was wirklich hängenbleibt, das sind doch all jene Dinge, die mit Emotionen verbunden sind. Und damit meine ich nicht nur die Pausen im angesagten Freundeskreis, die Klassenfahrten mit Legendencharakter, den rauschenden Applaus nach einem Sportevent oder einem Schultheaterabend, sondern all die Fakten, die Lehrer und Lehrerinnen mit Begeisterung weitergeben.
Ich erinnere mich mit einer Exaktheit, die ich meinem bröselnden Gedächtnis kaum mehr zugetraut hätte, an unseren skurrilen, aber menschlich unglaublich interessanten Geschichtslehrer. Um uns die Schrecken des Zweiten Weltkrieges zu erklären, legte er kurzerhand seinen vom Socken befreiten Fuß auf das Pult und zeigte uns seine abgefrorenen Zehen, bzw. die Leerstellen derselben. Mehr musste er über Stalingrad gar nicht sagen, wir wussten am nächsten Tag selbst Bescheid und tauschten uns rege aus, denn jeder hatte seine schriftlichen und mündlichen Quellen zu Hause bemüht.
Damals war der Große Brockhaus in 24 Bänden das Mittel der Wahl – unser Wikipedia eben. Was ich damit sagen will: Begeisterung und Emotionen jedweder Art verankern Wissen einfach viel besser in den Köpfen unserer Kinder und machen sie zu Schwämmchen, die alles mit Freude aufsaugen. Der Rest ist vergebene Liebesmüh und die Zeit könnte mit Draußen spielen und Freunde treffen besser zugebracht werden. Denn dabei lernt man für‘s Leben sowieso am meisten!