Es ist gerade einmal ein paar Wochen her, dass eine Studie herauskam, die so manch einen regelrecht geschockt hat. Die Krankenkasse DAK stellte ihren Kinder- und Jugendreport vor. Und neben vieler anderer verstörender Details kam dieser Report zu folgender Schlussfolgerung: Mehr als jedes fünfte Schulkind in Baden-Württemberg ist psychisch auffällig. 22 Prozent aller Jungen und Mädchen im Alter von zehn bis 17 Jahren sind demnach von einer psychischen Erkrankung oder Verhaltensstörung betroffen. Vor allem jüngere Schulkinder fallen durch Entwicklungsstörungen auf, wozu auch auch Sprach- und Sprechstörungen gehören. Auch die Aufmerksamkeitsstörung ADHS sei verbreitet.
Angesichts dieser Studie ist es wichtig, zu differenzieren: Nicht all diese Erkrankungen sind unmittelbar dem Leistungsdruck in der Schule zuzuschreiben. Genetische Vorprägungen, irreale Schönheits- und Lebensentwürfe, zur Schau gestellt auf Instagram & Co. sowie Mobbingerfahrungen sind ebenfalls wichtige Ursachen. Doch es ist nicht wegzudiskutieren: Die Schule ist ein großer Faktor für die psychische Gesundheit unserer Kinder. Im Jahr 2017 gaben laut einer deutschlandweit erhobenen Statistik rund neun Prozent der mehr als 10. 000 befragten Kinder im Alter von neun bis 14 Jahren an, dass sie oft durch die Leistungserwartungen der Lehrkräfte in ihrer Schule überfordert sind. Sogar Zweit- und Drittklässler klagen schon über Stress.
Auch den Familien wird viel abverlangt
Die Gründe dafür scheinen auf der Hand zu liegen: verkürzte Schuljahre, dadurch erhöhter Lernaufwand, gestiegene Leistungsanforderungen in der Gesellschaft („Ohne Abi kannst du heute nichts mehr werden“). Viele Kinder stehen unter einem großen Druck – auffälliges Verhalten in jeglicher Hinsicht kann dabei ein Zeichen von Überforderung, ein Hilferuf, sein. Dabei sind nicht nur die Ansprüche an die Kinder enorm, der ganzen Familie wird in Sachen Schule einiges abverlangt. Eltern befinden sich heute oftmals in einem tiefen Zwiespalt. Sie sollen fördern, aber nicht zu viel fordern. Sie sollen nicht helikoptern, aber im hektischen Alltag zwischen Arbeit und Haushalt ihre Kids pädagogisch bei Bedarf jederzeit unterstützen. Sie sind gefangen in einer Mühle, geprägt von politischen Verordnungen und neue Kategorien in Sachen Lernstandards. Der Erfolgsdruck in der Schule müsse kritisch hinterfragt werden, betonte vor einiger Zeit zum Beispiel der „Deutsche Kinderschutzbund“ (DKSB). „Wir müssen endlich aufhören, bereits bei Neun- bis Zehnjährigen die Weichen für das gesamte weitere Leben zu stellen. Dann können wir den Kindern nicht nur viel Stress ersparen, sondern auch ihre Potenziale besser entwickeln. Alle internationalen Studien zeigen, dass die leistungsschwächeren Kinder in ihren Lernständen profitieren, ohne dass die Leistungsstärkeren Nachteile haben müssen.“
Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo
Überhaupt – was heißt das eigentlich, „leistungsschwächer“? Ist das nicht oft nur eine Momentaufnahme? Jeder Mensch entwickelt sich nach seinem höchst individuellen Tempo. Der eine ist in einem Bereich eine Regionalbahn, der andere ein Intercity und der dritte vielleicht ein ICE. Doch das wird Kindern heute immer weniger zugestanden. „Das wächst sich aus“, war früher mal so ein Satz, den man heute immer seltener hört. Hinzu kommen die individuellen Stärken und Schwächen. Muss jeder wirklich gleich gut rechnen können? Darf man nicht auch etwas nicht so gut können?
Wird „pathologisiert“?
Tatsächlich sind manche Experten der Meinung, dass Verhaltensauffälligkeiten oder psychische Störungen in den vergangenen Jahren nicht zugenommen haben, sondern einfach häufiger diagnostiziert werden. Das kann verschiedene Gründe haben. Es werde zunehmend „pathologisiert“, sind sich manche Experten sicher. Dr. Michael Hauch, seit fast 40 Jahren Kinderarzt, hat ein Buch darüber verfasst. In „Kindheit ist keine Krankheit“ beschreibt er, wie normale Kinder mit unnötigen Tests zu Patienten gemacht werden. „Jede noch so banale Auffälligkeit sehen wir als riesengroßes Problem und machen daraus einen medizinischen Fall“, schreibt er. Klar, für alles existieren Normen: U-Untersuchungen, Schuleingangsuntersuchungen, PISA-Tests, Bewertungsbögen,… Bei Abweichungen von diesen Normen, zum Beispiel motorisch oder sprachlich, gibt es Ratschlägen von allen Seiten, egal ob von anderen Eltern, Erziehern oder Lehrern. „Die Anspruchshaltung ist gestiegen“, sagt Michael Hauch dazu. Es werden schnell Therapien vorgeschlagen, die wiederum auch psychischen Stress beim Kind erzeugen können. Die Botschaft, die beim Nachwuchs ankommen könnte: Offenbar bin ich nicht gut so, wie ich bin.
Faktenlage erschütternd
Der Mediziner Jörg Bätzing, der sich mit dem Thema psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen intensiv auseinandergesetzt hat, gibt Positiveres zu bedenken: Auch die zunehmende Sensibilisierung für eine gesunde psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und der offenere Umgang mit Störungen könnten die Zunahme der Diagnosehäufigkeit erklären. Trotzdem, die Faktenlage ist erschütternd. Was macht man denn jetzt damit? Wie können wir für unsere Kinder eine Lernumgebung schaffen, in der ihre Gesundheit in jeglicher Hinsicht bestmöglich geschützt wird?
Resilienz
Die gute Nachricht vorweg: Die Ressource dafür ist schon da. Forschungen zeigen, dass Menschen, die über gute Bindungen verfügen, weniger Stresshormone im Blut haben und dafür mehr Botenstoffe, die Optimismus, Selbstbewusstsein und Lernvermögen transportieren. Das Zauberwort heißt Resilienz, psychische Widerstandskraft. Eltern und pädagogische Fachkräfte haben die wichtige Aufgabe, den Kindern emotionale Stabilität und Selbstvertrauen zu vermitteln. Das Selbstwertgefühl darf nicht an gute Noten gekoppelt sein. Positive Rückmeldungen sollte es nicht nur dann geben, wenn die Mathearbeit eine 1 war. Eine 3 kann ein Wahnsinnserfolg sein, wenn es bisher nur 4en und 5en gab. Und dann ist da ja noch das Thema Gelassenheit. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, sich immer mal wieder bewusst zu machen, dass gewisse Standards von außen auf aufoktroyiert werden. Ist es wirklich schon so bedenklich, dass das Kind mit Schuleintritt noch nicht lesen kann, obwohl es das Nachbarskind schon kann?
„Wir mögen Dich trotzdem“
Situationen, in denen Druck entsteht, sollten immer wieder ganz genau reflektiert werden, auch, wenn es Kraft kostet. Das heißt nicht, dass man keine Nachhilfe oder Logopädie organisieren darf und erst recht nicht, dass man sich bei psychischen Auffälligkeiten keine Hilfe holen soll. Doch vielleicht kann man als Elternteil oder Fachkraft an der ein oder anderen inneren Stellschraube drehen. Damit die Kinder in Zukunft häufiger hören: „Das wächst sich aus.“ Und, wichtiger noch:„Egal, welche Leistungen Du erbringst, wir mögen Dich trotzdem.“