Beschwerden
Sabrina, Mutter des elfjährigen Philipp aus Bruchsal ist mit ihrem Sohnemann augenscheinlich unzufrieden: „Mein Junge ist irgendwie ständig aufgedreht! Manchmal ist das mit ihm kaum auszuhalten. Er kann sich auch auf nichts so richtig konzentrieren! Keiner Tätigkeit widmet er sich länger als ein paar Minuten… Hat mein Liebling vielleicht ADHS, oder so?“
„Tja, bei solch massiver Beschwerdeführung muss du möglichst rasch nachsehen!“, signalisiert mir mein notorisches Heilpädagogen-Hirn. Gedacht, getan. Was ich dann am heimischen „Tatort“, in Anwesenheit der meisten Beteiligten wahrnehme, ist mit einem Wort erklärt: Stress!
Beschleunigung, die Erste
Daheim bei Philipp: Schon zu Anfang fällt mir auf, dass hierorts ganz allgemein große Hektik herrscht. Soweit, so stressig. Aber nach aufmerksamer Bobachtung zieht ein scheinbar zentrales Element in Philipps Welt meine besondere Aufmerksamkeit auf sich: Der kleine Pfiffikus besitzt ein eigenes Smartphone! Seit seinem sechsten Lebensjahr, Leute! »Das ist doch nichts Ungewöhnliches!«, insistiert Sabrina, die hier, am Ort des Geschehens ebenfalls ziemlich gestresst wirkt.
„Doch!“, finde ich, „ist es!“ Denn diese doofe Kamera mit Handy-Funktion ist nicht nur absolut kein geeignetes Spielzeug für Fünf-, Elf- oder Nochmehrjährige, und, was das Ganze wirklich prickelnd macht: Das Teil ist bei Philipp offensichtlich im Dauereinsatz:
Ganz abgesehen von den unaufhörlichen Wisch-und-Weg-Bewegungen am „Tatsch-Skrien“ und dauergeöffneten mir-ist-ja-so-fad-im-Kopf-Games, sind da noch seine zahlreichen Online-„Freunde“, die Philipp wie einen gestressten Manager während eines Gutteils seiner Tagesfreizeit quasi fernschrift- oder -mündlich ans Handy fesseln. „Was machst du gerade?“
„Ach! Ich häng´ hier bloß so rum!“
Beschleunigung, die Zweite
Als wäre das noch nicht genug, gibt es noch einen weiteren großartigen Beschleunigungsfaktor für den ADHS-verdächtigen Jungen: Sabrina und ihr offenbar liebstes Hobby, Kontrollanrufe! Wann immer das Universum die beiden Protagonisten räumlich voneinander trennt, scheint ihr ein winziger und deshalb für alle andern unhörbarer Handysender in ihrem Kopf zu befehlen: „Ruf deinen Jungen an! Frag nach, ob es ihm gut geht! Erteil ihm rasch ein paar unerfüllbare Fern-Aufträge!“ Quasi ein Dauer-Stalk im Denksystem, ein „Brain-Bug“ auf neudeutsch.
Der virtuelle Synapsen-Stalker jedoch hat offenbar das Sagen, denn Sabrina, die Guteste zieht ihre Kontrollanrufe bildschön in regelmäßigem Abstand von zwei Stunden durch: „Hallo, mein Spatz, was machst du denn gerade…?; Hast du auch brav gegessen?; Denk´ an deine Schularbeiten!; Setz´ dich hin und lerne!“
Mission Impossible vom Feinsten!
„Aaah! Ich will nicht!“, schreit da eine andere Sendeanlage in Philipps Kleinhirn! Erfolglos!
Mamas Kontrollstation, offenbar „powered by Handybetreiber“ ist die stärkere Macht!
Deswegen heißt es ja schon bei den alten … Funkern: „Möge die Macht mit dir sein!“
Beschleunigung, die Dritte
Am Eindringlichsten aber empfinde ich Phillipps „machtvoll-hüpfenden“ Freizeitverlauf: Mindestens zwei bis drei Mal am Tag ändern sich die aktuellen Pläne für den armen Wurm, weil irgendwelche schriftlichen oder fernmündlichen Messages neue Inputs verkünden …
Ein kleiner Junge auf dem allerbesten Weg zum großen Burn-Out, vielleicht auch in Richtung g´schmeidiger Frühpension. Ja, ich weiß! Ich überzeichne mal wieder! Aber das sind Sie, liebe KARLSRUHER KIND-Fans ja nun sicherlich schon gewohnt.
Zurück zu unserem zappel-verdächtigen Philipp: Wozu also sollte sich dieses überbeschäftigte Kind überhaupt die Mühe machen, sich auf irgendeinen netten Kinderkarm längerfristig einzustellen, oder gar sich darauf zu freuen, wenn ohnehin im Minutentakt neue Tasks eintrudeln? „Task-Jumping“ – Aufgabenhüpferei, nenne ich dieses häufig zu beobachtende Phänomen deshalb liebevoll! Nicht besonders förderlich für junge Gemüter, die eigentlich von natur aus darauf programmiert sind, sich auf etwas von Herzen einzulassen um es dann, fantasievoll umrahmt, aber vor allem in Ruhe durchzuspielen, zu erleben. Willkommen auf dem Planeten der „artgerechten Kinderhaltung!“
Kindgerecht?
Mir als greisem Verhaltenspädagogen kommt der momentane exzessive Smartphone-Hype eben leider als nicht so besonders artgerechte Kinderhaltung vor! <KA> Auch, wenn das streng genommen auch für uns Erwachsene gelten mag: Wirklich förderlich ist diese ausufernde Abhängigkeits-Pandemie wohl für keinen von uns!
Aber vielleicht bin ich ja wirklich bloß altmodisch!
Obwoohl! Ein paar ebenso greise Forscher haben Studien angestellt und danach alarmierende Zahlen veröffentlicht: Durchschnittlich befinden sich Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren etwa alle neun Minuten im Tatsch-Skrien-Modus. Ich sage: durchschnittlich! Das heißt, die wahren Junkies unter den Kids bringen es auf unter zwei Minuten!
Vielleicht ein Denkanstoß für uns alle?
Entspannung für Philipp
Klar bekommt auch die nette Sabrina so einen kleinen Anstupser von mir: „Meinen Sie wirklich, dass es hilfreich ist, wenn Sie Ihr Kind ständig online – frei übersetzt: ´an der Leine´ – haben?“
Und wirklich: Die junge Mutter ist ins Grübeln gekommen. Nur wenige Wochen später ist in Philipps Welt und damit – welche Überraschung – auch in seine eigenen Verhaltensmuster merklich Ruhe eingekehrt. Ganz leicht war es nicht, aber Mama Sabrina hat ihre täglichen Kontrollanrufe beinahe gänzlich eingestellt und auch die Handy-Nutzung arg eingeschränkt! Bei sich selbst! Seltsam: Auf einmal war auch unser smarter kleiner mächtegern-Zapelphilipp gar nicht mehr so wild auf Kamera-mit-Handy-Klumpert-Dauerbetrieb.
Und Sie? Wäre bei Ihnen nicht auch ein klein wenig weniger bei der Nutzung von Smarties & Co drin? Eine Probe ist es allemal wert: Schalten Sie doch mal einen ganzen, ach was sag ich … bloß einen viertel Tag lang konsequent Ihr eigenes Taschen-Computer Zeugs ab und seien Sie für niemanden inklusive Nachwuchs erreichbar.
Sie werden es mögen!