Ich liebe Kinder, besonders die im Kleinformat. Aber mit Jugendlichen unterhalte ich mich ebenso gerne und freue mich, wenn sie mir aus ihrem Leben erzählen. Ich bewundere ihren spontanen Esprit, ihre Offenheit und Zuversicht, was ihre Zukunft angeht. „Was kostet die Welt?“, scheint noch immer bei den meisten die Devise zu sein und das ist gut so. Zu Bedenkenträgern werden sie noch früh genug.
Neulich nun musste ich stark zweifeln, zum einen an meiner Einschätzung und zum anderen an der italienischen Jugend, genauer gesagt einer quirligen Landschulheimklasse und noch genauer gesagt am weiblichen Teil dieser Puber-Tiere. Es war auf einer Fähre. Vom italienischen Ancona aus sollte es in 24 Stunden ins griechische Patras gehen, also viele Stunden über das wackelige adriatische Meer, wo es meist ziemlich windig und mit einigermaßen Seegang zu rechnen ist. Alle Passagiere trugen daher wetter- und winddichte Kleidung und festes Schuhwerk. Alle Passagiere? Nein, ein kleines Dorf… äh, eine kleine Schulklasse, nein, klein war sie auch nicht. Also, zahlreiche junge Mädchen einer italienischen Schule trugen alles, bloß nichts wetterfestes, winddichtes und wellentaugliches. Kaum zu glauben, wie sich die Mädels mit diesem Kofferinhalt aus dem Haus geschlichen hatten. Vielleicht waren die Sachen schon Wochen vorher in einer Hecke oder einem verlassenen Gartenhäuschen deponiert worden, um sie an den ahnungslosen Eltern vorbei gegen Sportschuhe und Windbreaker auszutauschen.
Fröstelnd und wild kreischend waberten Mädchengruppen mit bauchfreien Minitopps und hautengen Leggins der Größe XS auf sagenhaften Absatzhöhen an uns vorbei. Der Wind zerzauste in Sekundenbruchteilen die kunstvoll auftoupierten Haare und die Zigaretten in ihren zitternden Fingern rauchte der Sturm.
Was natürlich niemanden davon abhielt, sofort eine Neue anzustecken.
Sehr befremdend, dachten wir zunächst unabhängig voneinander, bis wir im Gespräch feststellten, tatsächlich das Gleiche beobachtet zu haben. Einer Fatamorgana gleich hätten wir die italienischen Schülerinnen vielleicht bald wieder vergessen, wären sie nicht zeitgleich im Restaurant aufgeschlagen. So ähnlich müssen sich die Ägypter gefühlt haben beim Anblick der Heuschreckenplage in biblischen Zeiten. Urplötzlich schwoll die Lautstärke immens an, alle anwesenden Passagiere schauten verwundert nach der Geräuschquelle und erblickten geblendet folgendes: Die Mädchen hatten sich offenbar in Überschallgeschwindigkeit noch einmal umgezogen, trugen nun Minikleidchen in den gewagtesten Schnitten, die selbst einem Nachtclubbesitzer die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten und dazu Highheels, die wiederum jeden Orthopäden das große Geld wittern hätten lassen bei ihrem Anblick.
Um es noch einmal zu betonen: wir befanden uns immer noch auf einer Fähre und in einem Self-Service-Restaurant! Zurück zu den biblischen Heuschrecken: Das Buffet war binnen kürzester Zeit leergefegt und mit beladenen Tellern ging es ans Tische aussuchen. Mit dem Handy und der anzündebereiten Zigarette in der einen Hand, dem Handtäschchen am Ellbogen der anderen und auf 10 cm Abätzen kein leichtes Unterfangen, zumal das Schiff gerade mit Wellen auf dem offenen Meer zu kämpfen hatte. Die Mädels blieben standhaft und weiterhin im Kreischmodus.
Letzterer steigerte sich immer dann, wenn eine der Grazien Anstalten machte, sich neben einen der wenigen mitgeführten Jungs zu setzen. Inzwischen musste das Essen kalt sein, vielleicht ließen sie es deshalb zu 80% unberührt auf ihren Tellern liegen, wer weiß. Die Jungs – ich habe sie genau beobachtet – waren dem allen überhaupt nicht gewachsen. Fassungslos wurden sie von Mädchen in die Zange genommen und wo sonst zwei Personen vorgesehen waren, quetschten sich jetzt drei um einen Jungen, der wahlweise einen Handystick oder das Dekolleté einer seiner Mitschülerinnen im Gesicht hatte. Ähnlich wie es die alten Römer mit dem Wahlspruch „Teile und herrsche“ zum Sieg gebracht haben, wurden die Jungs von der kleinen Jungenherde getrennt und auf die verschiedenen Mädchentische verteilt.
Natürlich unter erheblichem Gekreische. Alle anderen Passagiere schauten dem Treiben gebannt und vor allem fassungslos zu. Das permanente Nachschminken, Selfiegeknipse und Haarezurechtgezupfe war ausgesprochen unterhaltsam.
Irgendwann löste sich auf ein geheimes Zeichen hin die Szenerie in Wohlgefallen auf. Ich könnte jetzt noch seitenweise über das Gezeter in der schiffseigenen Spielhölle berichten oder die nächtlichen Gelage auf dem Gang vor unserer Kabine oder das dritte bauchfreie Outfit an Deck am nächsten Morgen, will mich aber beschränken auf die stoische Gelassenheit der unausgeschlafen wirkenden Lehrerinnen, die nach dem dritten Aufruf ihre noch unausgeschlafeneren Schäfchen versuchten aus den Betten und in den Bus zu expedieren. Am besten gefielen uns die kleine Gruppe von Jungs, die sich mit ihrem Gepäck in einer der Lounges eingefunden und kartenspielend in eine Sofaecke gemümmelt hatten. Mit viel Spaß gaben sie sich ganz ihren Assen auf der Hand hin, ohne dem Schaulaufen der Mädchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen. Im Nachhinein muss ich den Mädels etwas Abbitte leisten. Wenn ich bedenke, wie meine Freundinnen und ich zum ersten Landschulheimaufenthalt unterwegs waren… und wenn ich die Zigaretten, die Selfiesticks und die Wimpern im Spinnenbeineformat wegdenke… Das Gekreische bleibt!