Kinder und Venedig – das passt nicht wirklich zusammen. Touristen ja, Gondeln und Kanäle, stinkende Dieselmotoren und Schweißgeruch auch. Und natürlich Kunst, Licht, traumhafte Atmosphäre, aber Kinder? Die hätte ich dort nicht vermutet. Und Einheimische schon gleich gar nicht.
Schließlich las ich gerade gestern erst, dass der Schwund nach der großen Pestwelle vor Jahrhunderten die Einwohnerzahl ebenso dezimiert hat wie die Folgen des Tourismus heute. Und damals baute man noch zum Dank für die Überlebenden eigens eine formvollendete Riesenkirche, heute dankt man niemandem. Mit Recht, denn das, was da allmorgendlich in Massen die Stadt flutet, ist wahrlich nicht dem Erhalt dieses Weltkulturerbes förderlich. Da wird sich auf dem Markusplatz aneinander vorbei geschwitzt, da stauen sich die Gondeln zu schaukelnden Knäuels vor den Anlegestellen und wird der Selfi-Stangenwald immer dichter vor den einschlägigen Motiven. Man hört babylonisches Sprachengewirr allerorten und sämtliche Infrastruktur der Venezianer ist inzwischen den Trink-, Ess-, und Souvenierbedürfnissen der Tagestouristen gewichen.
Und dennoch scheinen hier Menschen zu wohnen. Denn wo sonst sollen die vier Jungs herkommen, die wir plötzlich mitten im schönsten Fußballspiel überraschen? Der kleine Platz liegt etwas versteckt an einer unscheinbaren Kirche mit Backsteinfassade. In seiner Mitte spendet eine Baumgruppe Schatten, in dem auf Bänken junge Mütter mit ihren Kleinkindern ins Gespräch vertieft sind. An Plastiktischen sitzen alte Herren und trinken Kaffee und irgendetwas Hochprozentiges. Diese Oase des Normalen mitten im quirligen und lauten Venedig, das tut gut. Ab jetzt schaue ich bewusst nach Kindern und tatsächlich entdecke ich mitten im dicksten Vaporetto-Gedränge auf der schwankenden Warteplattform eine Vierergruppe Mädchen, die sich kichernd um ihre Handys schart, um das Foto eines jugendlichen Schwarms auszutauschen. Das Summen in der Hand eines Teenies lässt die anderen verstummen und angespannt innehalten… Schade, es war nur Mathilde, wie ich ungewollt mithöre. Dann kommt von links Kleinkindergeschrei aus einer Kinderkarre heraus, in die eine Mutter in immenser Schnelligkeit Nahrung in Form eines Obstgläschens hineinschaufelt. Offenbar kommt der gefüllte Löffel dennoch zu langsam bei dem hungernden Wesen im Kinderwagen an, denn zwischen den Löffeln kräht das Kind erbärmlich aus vollem Hals.
Wenig später sitze ich auf den Treppenstufen des Guggenheim-Museums und genieße den fulminanten Blick auf den Canal Grande. Und was gondelt da keine zwei Meter an mir vorbei? Eine Mutter mit vier Kindern. Sie lässt für Sekunden den Selfistab sinken und reckt den müden Rücken, doch die vier Kinder sind allesamt über ihren Handys zusammengesunken. Ob sie vielleicht erst nach Asien zurückgekehrt die Schönheit dieses Ortes wahrnehmen beim Schauen der Urlaubsvideos im familiären Kreis?
Und dann sitzen wir im Hof des Museums und neben uns spielt ein kleiner Junge gedankenverloren mit seiner offenbar gerade neu erstandenen Pinocchio Marionette. Er singt und spricht – völlig in sich versunken – mit dem langnasigen Kerlchen. Daneben Mutter und Großmutter leise ins Gespräch vertieft und sicher genauso dankbar um eine kleine Pause wie wir. Alle warten auf den Papa, der sich kunstbegeistert in die Welt der Peggy Guggenheim geworfen hat und jetzt beglückt aus den Heiligen Hallen tritt. Und nun wird der Kleine gefragt, was er gerne als nächstes tun würde und siehe da, die Antwort lautet deutlich vernehmbar: „Pinocchio und ich wollen ein Eis!“ Wenn das nicht der krönende Abschluss eines Kindertages in Venedig ist!