Vor rund 60 Jahren stand ein Wald neben jenem Dorf, in dem ich als kleiner Junge lebte. Wann immer wir Kinder Zeit fanden, zogen wir uns dorthin zurück. Es gab eine Bunkerruine, die man eigentlich nicht betreten durfte, hohe Bäume, auf die man eigentlich nicht klettern durfte, und Verstecke im Unterholz, die eigentlich niemand kennen durfte außer uns. Und irgendwo dazwischen gab es sogar eine Höhle, in der wir unser Lager aufgeschlagen hatten. Dorthin konnten wir uns zurückziehen, wenn das Wetter mal schlecht wurde oder wir einfach nur unter uns sein wollten. Die Höhle liebten wir, weil uns dort niemand etwas sagen konnte – sie war ein Ort der Freiheit.
Kinder brauchen Höhlen. Sie brauchen einen Ort, an den sie sich zurückziehen können, wenn sie von der Welt um sie herum einmal nichts wissen wollen. Fast alle Kinder bauen sich in ihrem Kinderzimmer irgendwann einmal eine Höhle, und sei es nur mit Hilfe einer Decke über umgekippte Stühle oder mit einem Vorhang vor dem Bett. Manche haben das Glück, in einem Haus mit Garten zu wohnen, in dem es einen Baum gibt. In dem Wohngebiet, in dem ich heute lebe, gibt es solche Grundstücke. Auf etlichen davon kann man Baumhäuser bewundern, die heimwerkende Väter für ihren Nachwuchs gezimmert haben. In manchen davon schlafen in warmen Sommermonaten die Kinder sogar, oft gemeinsam mit Spielkameraden.
Für sich sein können – das ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Wir spüren es nicht ständig, aber immer wieder einmal. Kinder fühlen es häufiger als Erwachsene, weil die sehr oft etwas von ihnen wollen. Kleine Menschen möchten, so wie die großen auch, immer wieder einmal für sich sein können, ohne Kontrolle, heimlich, in Ruhe. Viele Eltern wollen jedoch ihren Kindern gerne so viel an Gutem tun, wie ihnen nur möglich ist. Darum gibt es heutzutage Kinder, die kaum noch Zeit finden, mit anderen ungeplant und spontan zu spielen. Entsprechend gering sind ihre Möglichkeiten, sich zurückzuziehen und nur für sich zu sein.
Dieser Trend hat Folgen: Wer sich nicht ab und zu zurückziehen kann, verliert viel an Kreativität. In der Einsamkeit einer Höhle oder eines Baumhauses kann man träumen – es gibt keinen kreativeren Wachzustand, denn das ist Fantasie pur! Träume sind der Ursprung von Ideen. Nicht alle sind umsetzbar, aber manche schon. Aus Träumen entwickeln sich Wünsche, aus Wünschen Perspektiven, aus Perspektiven (vielleicht) eine Karriere.
Wer sich in seine private Höhle zurückziehen kann, wird dort mit Sicherheit immer wieder einmal Langeweile verspüren. Aber auch die fördert Kreativität, denn aus der Langeweile heraus kommen wir Menschen gleichfalls auf Ideen, und zwar auf unsere eigenen. Für eigene Ideen bringen wir mit Leichtigkeit so viel Energie auf, wie erforderlich ist, um sie in die Tat umzusetzen. Das verbuchen wir für gewöhnlich als Erfolg, und derlei Erfolgserlebnisse bilden eine der wichtigsten Quellen für starke Leistungsmotivation. Wer jedoch permanent von einem „pädagogischen Angebot“ zum nächsten kutschiert wird, vermag kaum noch eigene Ideen zu entwickeln.
Übrigens, in Höhlen oder Baumhäusern, an versteckten heimlichen Orten, haben Kinder kein Bedürfnis nach Fernsehen oder anderen Bildschirmmedien. Es sind besondere Orte – Orte der Ruhe. In der lauten und oftmals hektischen Welt von heute sind sie wichtiger denn je.