Der „Circle of Learn“

Grafik: Günter Land

Atmen, schlafen, saugen, Geräusche wahrnehmen, entsorgen, Berührung genießen, klarer sehen: wie schnell ist die Zeit der ersten Wochen eines Babys vorüber und man kann sich die ungeheure Lernleistung, die das kleine Babygehirn vollbracht hat, kaum vorstellen.

Drehen, sitzen, krabbeln und sogar aufrecht gehen: Eltern nehmen diese Entwicklungsschritte ihrer Kinder sehr bewusst wahr und noch Jahrzehnte später werden Anekdoten darüber erzählt, wer wann zum ersten Mal mit ausgestreckten Ärmchen wem im aufrechten Gang entgegenwackelte. Meist so gar nicht zur Freude des ehemaligen Wackelnden, vor allem, wenn es sich bei der oder dem amüsiert Lauschenden solcher Familienschmankerl um die neue Flamme handelt.

Irgendwann wird die Körperkontrolle immer besser, die Sache mit den Windeln entfällt und auch dieser Augenblick wird von Eltern später gerne als lustiger Schwank aus dem Leben ihres meist Erstgeborenen kolportiert.

Ab jetzt wird mehr oder weniger perfekt mit Messer und Gabel gegessen, werden Bälle gefangen, balanciert, können Reißverschlüsse geschlossen und vor allem auch wieder geöffnet und das Radfahren geprobt werden, wegen oder trotz der ungezählten Ratschläge der besorgten Eltern, die ihr Kind im Geiste in alle Verkehrsunfälle dieser Welt verwickelt sehen. Jeden Tag lernt das Kind jetzt sechs neue Wörter, kann telefonieren, was wiederum die beteiligten Großeltern immens freut. Es macht erste Zählversuche, was manchmal noch nicht zwingend auf eine erfolgreiche Karriere als Mathematiker hinweist, aber dennoch oftmals genauso gedeutet wird von den erziehenden Angehörigen.

Das Kind beginnt zu verstehen, was Zeit bedeutet, etwas, das im Rahmen der Pubertät schlagartig wieder verloren geht. Es kann über einen längeren Zeitraum hinweg konzentriert zuhören, auch das eine Fähigkeit, die mit dem Eintritt in oben genannte Prüfungsphase für Eltern sich wieder komplett zurück entwickelt.

Kinder mit fünf Jahren können kleine Gesellschaftsspiele spielen, sie singen und basteln, lernen sogar mit Niederlagen umzugehen. Auch diese Fähigkeit scheint etwa zehn jahre später vorübergehend wieder verloren zu gehen.

Mit anderen etwas freiwillig zu teilen, Gefühle immer besser zu verstehen, länger still zu sitzen, eigene Lösungsansätze zu finden, sich in eine Gemeinschaft einzuordnen, lesen, schreiben, rechnen, seine Kräfte einzuteilen, Regeln zu beachten und zu brechen, eigene Entscheidungen zu treffen und zu verargumentieren: Wenn Ihr Kind in letztgenannter Phase des Lernens angekommen ist, wird das Zusammenleben mit ihm noch spannender als je zuvor, diplomatisch umschrieben.

Das Kind lernt, sich jetzt nicht mehr als solches zu empfinden, sein Zimmer als Höhle zu nutzen, seine Energie sehr sprunghaft einzusetzen und blitzschnell auf null zurückzufahren. Es lernt zu kichern und zu tuscheln, die elterlichen Finanzressourcen in ungeahnte Tiefen zu treiben, sich in fragwürdige Idole zu verlieben und endlich zum Höhepunkt der Diskussionsfreudigkeit zu gelangen. In dieser Phase verlagert sich das Lernen größ­ten­teils auf das soziale Miteinander, weit weg von allen schulischen Belangen.

Im fortgeschrittenen Teil der Adoleszenz geht es einige Jahre später um Ausbildungsentscheidungen, Assessment Center, Personalfragen… und das Lernen nimmt kein Ende.

Irgendwann hat das Kind selbst ein Kind und erlebt nun all die Dinge, die solch ein Lernleben ausmachen aus der Erwachsenenperspektive. Wenn Rafiki seinen neugeborenen Sohn Simba zu Elton Johns Song „Circle of Life“ stolz den Löwenuntertanenmenge präsentiert, summe ich im Geiste englisch unkorrekt „Circle of Learn“ mit und freue mir ein Loch in den Bauch über das Geschenk, bis zum letzten Atemzug meines Lebens Neues dazulernen zu dürfen.


Eva

Eva Unterburg

Eva Unterburg schreibt wunderschöne Rezensionen über Kinderbücher und ist langjährige Freundin der Redaktion.

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