Lernen? Was für ein Spaß!

Familien-Coach Gerhard Spitzer hat kindgerechtes Lernverhalten im Fokus

Gerhard Spitzer, der bekannte Wiener Verhaltenspädagoge und Autor von Top-Sellern wie „Entspannt Erziehen“ und „Warum zappelt Philipp?“, hat mit seiner humorvollen und konsequent kindgerechten Sichtweise schon zahllosen Eltern zu einem entspannteren Umgang mit ihren Kindern verholfen. Einer breiten Hörerschaft ist Spitzer durch seine Hörfunk-Live-Talks, sowie mit seinem erfolgreichen Seminarkabarett, „Kinder im Tyrannenmodus“ bekannt geworden.

Unrealistische Fantasien? Darf es diesmal ein besonders mutiger Blickwinkel sein, liebe Freunde meiner Kolumne? Erlauben Sie es mir aus alter Freundschaft, dass ich diesmal ein paar total unrealistische pädagogische Fantastereien vom Stapel lasse? Gut! Dann los! Hier mein erster „Stapellauf“: Absolut jedes Kind hat Spaß am Lernen! Immer! Mit Rundumgarantie! Okay – jetzt nicht unbedingt immer Spaß an der Schule, das gebe ich huldvoll zu, aber hier geht es, wie im ganzen Heft 3/17, bloß ganz allgemein ums Lernen!

Mein zweiter „Stapel“ ist noch fantasievoller: Kinder können gar nicht nicht lernen! Ich nenne das liebevoll den NI.NI.LE – Effekt. Ihre Gehirne können zwar unglaublich viel leisten, aber gar nix zu lernen, das bekommen sie ganz sicher nicht gebacken. Dieser andauernde, sogar ziemlich lustvolle Prozess des unterbrechungsfrei Lernens, beginnt, wie wir mittlerweile wissen, bereits im Mutterleib und hält – einigermaßen behutsam gepflegt – bis zum Ende unserer Tage an. Ebenfalls mit Rundumgarantie!

Die gute Frage ist nur: Warum finden dann so viele Kids ihr “lernendes Schicksal“ nicht mehr ganz so prickelnd? Die Antwort darauf ist gleichermaßen einfach, wie ernüchternd: Weil Ihnen größtenteils der Spaß daran durch zuviel Ernsthaftigkeit abtrainiert worden ist.

Rating Der elfjährige Stefan zum Beispiel, ist von dieser Trainingsmethode ziemlich ausgiebig betroffen. Das liegt schon mal daran, dass seine Eltern kürzlich eine schriftliche Benachrichtigung von der Schule bekommen haben. Frei interpretiert lautet die so: “Liebe Eltern von Stefan! Achtung! Ihr notorisch lernunfähiger Sohnemann, der ganz offensichtlich auch noch an einem ausgeprägten FS-Syndrom leidet, (Faulsack) ist von unserer schuleigenen Noten-Ratingagentur gerade auf ´Ramsch-Status´ herabgestuft worden! Das wollten wir Ihnen hiermit freudig mitteilen und wünschen Ihnen noch einen schönen Tag!“

Toll, nicht wahr? … und so motivierend für die ganze Family, samt zwei Geschwistern. Klar bekommen die alle dieses nette aktuelle Rating auch mit!

Doch das ist nur die halbe Geschichte: Leider sind Stefans Eltern auch noch ausgerechnet beim Thema Lernen und Schule eher „anspruchsvoll“. Sätze wie: „Ihr müsst euch mehr anstrengen, damit ihr es mal besser habt!“ tönen betrüblich oft durchs friedliche Ambiente. Für Sohn Stefan hat der Vater sogar noch einen besonderen Anforderungs-Bonus parat: „Du darfst nur Top-Zensuren heimbringen, sonst kannst du nicht studieren!“

Schluss mit lustig Na toll! Ich frage mich, ob so liebe, engagierte Eltern, wie die von Stefan bemerken, welch hohen Anforderungsdruck sie mit solchen Absonderungen auslösen. Ratsuchende überrasche ich jedenfalls  gerne mit einer netten Erkenntnis aus meiner Heilpädagogen-Kiste: Mit jedem du-musst-mehr-lernen-Spruch sinkt die Chance auf mehr kindlichen Lerneifer dramatisch.

Na logisch, oder? Wir Erwachsenen erleben so etwas ja im täglichen Leben auch andauernd: Sobald uns irgendjemand zu einer Handlung drängen will, hat er schon keine guten Karten mehr. Wir gehen dann auf Distanz oder verweigern einfach alles! Spaßverlust vom Feinsten! Soziologen nennen so etwas „Abwehrverhalten“.

Aber es kommt noch dicker: Wussten Sie, dass man sich unter äußerem Leistungsdruck kaum etwas merken kann? Das hat mit unserem Gehirn zu tun. Bei Stress-Alarm schaltet es nämlich um auf Überlebensmodus und fährt sofort alles herunter, was nicht unmittelbar für die aktuelle Stressbewältigung gebraucht wird. Beispielsweise das Langzeitgedächtnis. Mit anderen Worten, unmittelbar nach nervigen Ansagen wie: „Du musst mehr lernen!“, läuft kaum noch etwas mit dem Lerneffekt. Es braucht jetzt sogar noch viel mehr Anstrengung, damit überhaupt noch etwas geht. Hirnforscher nennen diesen Vorgang übrigens „Gedächtniskonsolidierung“. Game Over für Stefan, den künftigen Master Blaster.

Schlussfolgerung: Wer seinem Kind die tägliche Pflicht-Ackerei mit übermäßiger Ernsthaftigkeit verkauft, also quasi „Dienst nach Vorschrift“ schiebt, der riskiert eine bildschöne Lern-Verweigerung, im praktischen Kombipack mit einem fetten ich-kann-mir-gar-nix-mehr-merken-Effekt. Das ist genau das, was auch mit unserem lieben Stefan passiert ist.

Schluss mit Ernst? Schon kommt die gute Nachricht: Wussten Sie, dass es für Kinder nichts Ernsthafteres gibt als Spaß? … und wohl auch kaum etwas, das einen nachhaltigeren Lerneffekt erzielen könnte.  Allein mit dieser Erkenntnis im Gepäck dürfte ich Sie schon dem Rest dieser reichhaltigen Ausgabe des RHEIN-NECCKAR-KIND  überlassen. Aber wie es Stefan weiter ergangen ist, möchte ich Ihnen keinesfalls schuldig bleiben! Zur Nachahmung vielleicht …

Lehrperson Bei Stefans Familie haben sich vier Dinge verändert: Erstens, hat der viel beschäftigte Vater sich endlich einige Nachmittage frei genommen. Zweitens, haben die Eltern erstmals auch selber „Lust“, sich mit den Lerninhalten zu beschäftigen, die ihrem Sprössling so vorgesetzt werden. Drittens, haben die Eltern mit meiner Hilfe ihr bisheriges du-musst-jetzt-endlich-lernen-Verhalten über den Haufen geworfen.

Daraus hat sich die vierte und „spaßigste“ Veränderung ergeben: Stefan darf manch eine „ernsthafte“ Lernstunde für die ganze Familie abhalten! Einzige Voraussetzung: Er soll möglichst alle ordentlich zum Lachen bringen. Das haut hin! Und wie! Mächtig „altklug“ und schrecklich wissend trägt der gestrenge elfjährige Lehrer seine noch dürftigen Erkenntnisse über Mathe, Geographie, Bio usw. vor. Sie wollen wissen, wie das ausgegangen ist? Ich verrate nur: Es sind jene Momente, in denen ich erkenne, warum ich meinen zeitweise sehr anstrengenden Job als Heilpädagoge überhaupt mache, denn reich wird man dabei eher nicht.

Mein damaliger letzter Tipp an Stefans Eltern: Achten Sie doch bitte ab jetzt aufmerksam darauf, mit welchem Eifer Ihr „lernfauler“ Stefan sich auf die nächste „Unterrichtsstunde“ vorbereitet.

Sie werden es mögen!


Redaktion

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