Zwergenaufstand oder Autonomiephase?

Gedanken zu aufsässigen Kindern unterm Weihnachtsbaum von unserer Autorin Sarah Nagel

Autorin Sarah Nagel, pointierte Autorin, engagierte Denkerin

Die Lichter am Weihnachtsbaum glitzern, der Duft von Braten zieht verführerisch durchs Haus. Die Familie sitzt zusammen und packt Geschenke aus. Papa kriegt wie immer die Krawatte, Mama bekommt – wie immer – ein Parfüm, und der zweijährige Jonas den heiß ersehnten Bagger. Harmonie pur also. Bis der Bagger für die Zeit des Abendessens beiseite gestellt werden soll. „Nein!“, lässt Jonas lautstark verlauten. Auch nach der zweiten und dritten Aufforderung ist das Ergebnis das gleiche, nur, dass die Lautstärke zunimmt. Zum Schluss schmeißt er sich voller Wut und Verzweiflung auf den Boden, schlägt wild um sich, weint. Die Eltern stehen sprachlos davor, wirkt das Verhalten doch aus Erwachsenensicht recht unproportional zur Bitte. Bis ihnen dämmert: Das Ganze wird zu einem Muster! Jonas probt nämlich nicht zum ersten Mal den Zwergenaufstand. Vor ein paar Tagen passierte es in der KiTa, als er unbedingt noch Bobby Car fahren und auf keinen Fall nach Hause wollte. Und davor, der Klassiker, im Supermarkt. Als er den Nuss-Nougat-Weihnachtsbären, den er nicht durfte, trotzdem, begleitet von einem Schreianfall, aus dem Regal riss. Und prompt taucht die Frage auf, die vielen Eltern den Schweiß auf die Stirn treibt: Ist Jonas vielleicht in der Trotz-Phase? Und wie, um Himmels willen, geht man damit um?

Ein Trost: Irgendwann zwischen dem 18. Monat und dem sechsten Lebensjahr trifft es so ziemlich jeden; in der Regel kann man sich zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag auf einiges einstellen. Experten nennen diese Entwicklung „Autonomiephase“, was nicht nur neutraler klingt, sondern die Erklärung für das Verhalten des Kindes schon beinhaltet. Es will sich nun von den Eltern lösen, entwickelt einen eigenen Willen. Wenn es dabei auf Probleme oder Widerstände stößt, was es ja ständig tut, kann das, je nach angeborenem Temperament, die ganze Palette der negativen Emotionen hervorrufen: Trauer, Tränen, Wut, Aggression, Schreien. Manche bekommen gar einen sogenannten Affektkrampf, laufen blau an, zucken mit Armen und Beinen, werden dann schlaff und atmen nur noch oberflächlich. Das alles ist ein Ausdruck von Frustration pur!

Es ist sehr wichtig zu wissen, dass Kinder gar nicht anders reagieren können. Der Teil des Gehirns, der die Emotionen zügelt, ist schlicht und einfach noch nicht so weit entwickelt. Als Erwachsener haben wir gelernt, dass wir den Metzger nicht einfach hauen dürfen, wenn unser Lieblingssteak schon ausverkauft ist. Aber das Schlüsselwort ist: gelernt. Die neuronalen Bahnen sind, wie es Danielle Graf und Katja Seide in ihrem Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ erläutern, zwar teilweise schon im Gehirn angelegt, „müssen aber erst durch viele Übungen zum Funktionieren gebracht werden.“ Das dauert einige Jahre!

Tatsächlich sind emotionale Ausbrüche normal und wertvoll: „Ein Kind mit ausgeprägten Trotzreaktionen kann den Eltern erhebliche Mühsal bereiten. Weit schlimmer aber wäre ein Ausbleiben der Trotzreaktionen“, erklärt der bekannte Kinderarzt Remo H. Largo in seinem Ratgeber-Klassiker „Babyjahre“. „Ihr Ausbleiben kann bedeuten, dass die Ich-Entwicklung beeinträchtig ist.“

Das Ganze rational zu wissen, ist das eine. Doch es ist nur allzu verständlich, wenn eben nicht nur im Kind, sondern auch in den Eltern in diesen Situationen die Emotionen hochkochen und sie sich überfordert fühlen. „Gegen solche temperamentvollen Auftritte können auch die fähigsten Eltern nichts ausrichten“, beruhigt Remo H. Largo, betont jedoch gleich darauf: „Die Häufigkeit aber, mit der die Tobsuchtsanfälle auftreten, ist wesentlich vom Verhalten der Eltern abhängig. Geben die Eltern dem Kind nach, wird es immer häufiger so reagieren, um seinen Willen durchzusetzen. Bestehen die Eltern auf ihrer Haltung, werden die Anfälle immer seltener werden. Das Temperament ihres Kindes können Eltern nicht verändern, sein Verhalten können sie aber sehr wohl beeinflussen.“

Doch was heißt das jetzt ganz konkret? Nehmen wir den Supermarkt-Klassiker von Jonas, schließlich sind an Weihnachten die Verlockungen in den Regalen ja noch größer als sonst. Jonas wollte ja unbedingt den Nuss-Nougat-Weihnachtsbären, doch seine Mutter hatte es ihm verboten. Ein Schreianfall folgte, die anderen Kunden schüttelten schon mit dem Kopf, die Mutter wird immer nervöser. Was sagen die Erziehungsexperten? Konsequent bleiben und ja den Bären nicht kaufen, riet der verstorbene Familientherapeut Jesper Juul. „In dieser klassischen Situation ist es besser, dem Kind laut und deutlich „NEIN“ zu sagen. Und dann an den Süßigkeiten vorbeizugehen, egal, was das Kind dann tut.“ Ähnlich sieht es auch Remo H. Largo. Den Bären zu kaufen, wäre eine Aufforderung für das Kind, Trotzreaktionen einzusetzen, um das zu bekommen, was es will. Trösten? Verstärke und verlängere die Situation häufig nur, so Largo. „Erfahrungsgemäß ist es am sinnvollsten, wenn die Mutter das Kind in Ruhe lässt und das Ende des Anfalls abwartet. Dabei entfernt sie sich nicht von dem Kind, sondern bleibt bei ihm. Sie gibt ihm damit zu verstehen, dass sie es nicht verlässt, ihm aber auch nicht nachgibt.“

In diese Richtung gehen auch Danielle Graf und Katja Seide, ihr Ansatz ist jedoch Kindorientierter. Sprache könne bei einem Wutanfall nicht gut verarbeitet werden, sind sich die Autorinnen einig. Deswegen setze man sich am besten mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck neben das wütende Kind. Ist es jünger als drei, kann man ihm seine Gefühle auch spiegeln – ein Gefühl benennen zu können, ist ein wichtiger Schritt zur Impulskontrolle. Wenn es leiser wird, das Nein noch einmal bekräftigen, und erklären, warum es etwas nicht darf. Kommt danach vielleicht ein Kompromiss infrage, der für beide Seiten einen Gewinn darstellt?

Zugegeben, das Ganze ist anstrengend und braucht viel Zeit. Aber die ist gut investiert. Schließlich sollten die Trotzanfälle schnell immer seltener werden, wenn die Eltern bedürfnisorientiert und konsequent reagieren. Und außerdem tragen sie so zur emotionalen Entwicklung ihres Sprösslings bei. Danielle Graf und Katja Seide ziehen am Ende ihres Buchs folgendes Fazit: „Wir sollten Wutanfälle nicht als Übel betrachten, sondern als Erfahrungen, die vielleicht schmerzhaft, aber notwendig sind, um am Ende das schönste Wunder überhaupt hervorzubringen: autonome und empathische Menschenkinder.“


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