Gerhard Spitzer, über die „kontrollierte Mobilität“ unserer Kids.

Gerhard Spitzer, der bekannte Wiener Verhaltenspädagoge und Autor von Top-Sellern wie „Entspannt Erziehen“ und „Warum zappelt Philipp?“, hat mit seiner humorvollen und konsequent kindgerechten Sichtweise schon zahllosen Eltern zu einem entspannteren Umgang mit ihren Kindern verholfen. Einer breiten Hörerschaft ist Spitzer durch seine Hörfunk-Live-Talks, sowie mit seinem erfolgreichen Seminarkabarett, „Kinder im Tyrannenmodus“ bekannt geworden.

Starten wir diesmal gleich mitten hinein in ein „verkehrsreiches“ Fallbeispiel. Aber, keine Sorge: hier ist alles unter Kontrolle

Gefahr im Verzug

„Nein! Du gehst den Schulweg noch nicht alleine. Da sind so viele gefährliche Kreuzungen!“, stellt Silke B., die Mutter des quirligen Thorsten klar, obwohl sich der Neunjährige nicht nur nach ein wenig Selbstständigkeit sehnt, sondern auch danach, dass ihm mal irgendjemand endlich etwas zutraut. Wie Musik klänge es in seinen Ohren: „Alleine willste losziehen? Aber klar, mein Liebling! Das schaffst du schon! Ich vertraue dir!“

Noch dazu handelt es ich bei dem „gefährlichen Schulweg“, den die vorsichtige Mutter im Sinn hat, um bloß neun Häuserblocks. Doch die Helikopter-Mutti Silke bleibt unerbittlich: „Ich fahr’ dich wie immer zur Schule! Damit Basta!“

Thorsten, der Verkehrsuntaugliche, hat noch einen letzten Trumpf im Ärmel, der jedoch rasch verpufft: „Aber Mami! Der Patrick geht doch auch schon alleine!“ „Was! Ausgerechnet der?“, platzt es aus Silke heraus, „der hat doch ADHS! Wie soll denn der mit seinem Aufmerksamkeitsdefizit aufpassen können? Mit dem gehst du sicher nicht! Außerdem: denk’ doch an die vielen rücksichtslosen Autofahrer…!“

Mein Fehler

Nach dieser Ansage habe ich es mir nicht verkneifen können, ein wenig zu überzeichnen: „Tschuldigung, liebe Frau B., mein Fehler! Ich bin nur Pädagoge, kein Augenarzt. Darum habe ich übersehen, dass Kinder ja noch keine funktionierenden Augen haben, um eine Straße lebensverlängernd zu queren, sobald sie das von Ihnen ausführlich gelernt haben. Am besten, Sie warten mit diesem spannenden Mobilitäts-Lebenstraining noch, sagen wir, bis der Junge mindestens 16 Jahre alt wird… oder 21! Guter Plan, Mom!“

Ich ernte zunächst Erstaunen, dann Grinsen, schließlich lachen wir beide. Schön! So eine Gesprächsbasis gefällt mir: Augenzwinkern erlaubt!

Einwände?

Nun, liebe KARLSRUHER-Kind-Leser/-innen? Hätten Sie eventuell Einwände gegen meine gewohnheitsmäßig überzeichnete Darstellung? Beispielsweise diesen hier: „Hat der Mann denn noch nie von den vielen Unfällen mit Kindern gehört und das sie eben unachtsam sind, die Kleinen?“ Ja, liebe Leute! Hat er!

Da Silke, als bekennende Helikopter-Mutter gerade einen ganz ähnlichen Einwand vorgebracht hat, halte ich aller-dings gleichermaßen tapfer, wie wohl überlegt mit drei „Totschlag-Argumenten“ dagegen…

„Erstens gehören Verkehrsunfälle, deren Ursache ausgerechnet kindliche Unachtsamkeit gewesen sein mag, eher zu den Ausnahmefällen. Zweitens ist bedenkenlose Unachtsamkeit keine typisch kindliche Schwäche, wie allenthalben geglaubt wird. Ganz im Gegenteil: Kinder lieben es, ihre eigene Achtsamkeit draußen in der Welt zu üben, es schließlich richtig gut zu machen und das dann auch ihren geliebten Bezugspersonen vorzeigen zu dürfen. Positive Wahrnehmung; Anerkennung; es endlich selber können. Das sind die Rezepte für eigenkompetente Mobilität von Kids jeder Altersstufe.“

Als drittes Gegen-Argument spiele ich Silke den Ball eiskalt zurück: „Zur Weitsicht bei möglichen Gefahrensituationen wird man erzogen, liebe Silke! Man hat sie nicht einfach. Fachlich korrekt hieße es: man wird daraufhin konditioniert. Sie haben es also in der Hand, Ihr Kind zur verlässlichen Achtsamkeit bei der Mobilität im Straßenverkehr zu erziehen. Gelingt Ihnen das, wartet am Ende der Straße bereits eine Portion tiefer Entspannung auf Sie und ihren Sohnemann…!“

Endlos-Sorgen und Dauerkontrolle hingegen können diesen Lichtblick niemals bieten. Sie bringen bloß Stress, Spannungen, schließlich Konflikte. „Ist das Ihr Plan, liebe Frau B.?“

Erstaunen, Nachdenken, schließ-lich lässt Silke sich auf einige Veränderungen ein, die ich nun, nachdem einige Wochen vergangen sind, mit Freude beobachte:

Thorsten wird mobil

Anstatt den täglichen Schulweg weiterhin mit der vermeintlich sicheren Benzinkutsche zu absolvieren, hat Mutter Silke vor einer Woche mit einem Anti-Sorgen-Mobilitäts-Training begonnen: Die ersten drei Tage ist sie entspannt plaudernd an der Seite ihres Sohnemanns den ganzen Schulweg mitgegangen und hat dabei auf einige wichtige Hinweise inklusive praktischer aber spielerischer Achtsamkeits-Übungen nicht vergessen. Genau, wie wir es besprochen haben. Schon jetzt wirkt die zuvor eingefleischte Heli-Mam viel entspannter. An den darauf folgenden zwei Tagen hat die Guteste schon einigen Abstand zu ihrem vorauseilenden Sprössling gehalten und nach Feierabend ihren Jungen gelobt, wie gut sein Verhalten aus der Distanz ausgesehen hat. Thorsten strahlt! Endlich! Ein Hauch von Freiheit, ein Ansatz von ehrlichem Vertrauen und gewährter Eigenkompetenz! Cool!

All diese wundervollen neuen Gefühle will der Junge typisch-kindlich nicht aufs Spiel setzen und passt seit gestern sogar noch viel besser auf, als Mom es verlangt hat. Es schaut lieber fünf Mal hin und her, bevor er die Straße quert. Übrigens: Busenfreund Patrick hat dieses tolle Verhalten sofort übernommen und entpuppt sich als genauso Gefahrensensibles Kind. Aufmerksamkeits-Defizit? ADHS? Wirklich?

Zukunftsaussichten

Thorsten wird später vielleicht zu jenen Jugendlichen gehören, die auch kniffligere Entscheidungen unter dem Aspekt der eigenen Sicherheit treffen können und in Problemsituationen nicht mehr andauernd auf irgendwelche Helikopter-Bezugspersonen angewiesen sind.

Klingt das entspannend? Auch für neue, selbstständige Mobilitätsexperimente mit Ihrem eigenen Kind? Dann los: Schicken Sie voller Mut ihr Kind Mutterseelenalleine raus in die gefährliche Welt!

Sie werden es mögen.


Redaktion

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