„Bildschirmfrei bis Drei“

Der Reutlinger Kinderarzt Dr. Till Reckert ist für eine frühe Kindheit ohne Bildschirm und Smartphone

Kinderarzt Dr. Till Reckert
Am Lebensanfang volle Wirklichkeitserfahrung ermöglichen

Menschen haben bemerkenswerte Eigenschaften: Sie gehen aufrecht mit eigenaktiv gehaltenem Gleichgewicht, sie können ihre dadurch freien Hände als feine Universalwerkzeuge benutzen, sie kommunizieren und kooperieren bei eigenständigem Denken und Erinnern, übernehmen die inneren Perspektiven Anderer und lernen dabei sprechen. Dann haben sie – gemessen an den Tieren – eine bemerkenswert lange Kindheit und Jugendzeit, in der sie alles, aber auch alles selber lernen müssen, was sie brauchen, um sich bei aller menschlichen Eigenständigkeit in ihre Umgebung einerseits einzupassen und diese andererseits zu gestalten. Vor allem in den ersten Lebensjahren bildet das Kind gleichzeitig seinen eigenen Körper und dessen Nervensystem an vielen kleinen Anstrengungen zu einem Instrument, das ihm dann hil!, sein weiteres Leben immer selbstständiger zu meistern.

Dies alles schaffen Menschen nur, wenn sie sich aktiv um die Verwirklichung ihrer Visionen bemühen – auch dann, wenn dies beschwerlich ist. Und sogar das muss jedes Kind lernen. Kann verfrühte Bildschirmexposition kleine Kinder behindern, menschliche Grundfähigkeiten voll auszubilden? Im Folgenden soll es anhand einiger Aspekte um diese Frage gehen.

Sensomotorische Integration an Welterfahrungen

Eine phänomenologische -(Selbst-)Beobachtung der eigenen Wahrnehmungen in der Welt und am eigenen Leib zeigt, wie unterschiedlich ein direkter oder ein (bildschirm-) medienvermittelter Weltkontakt wirkt(3,4). In der Kindheit entwickeln sich der eigene Körper und das Nervensystem in diesem Körper an diesen Erfahrungen und werden so zu einem fähigen Werkzeug für das Handeln, Empfinden und Erkennen.

Bei dieser Entwicklung gilt auch im Nervensystem der Grundsatz: „Use it or loose it“. Es ist wichtig, zu Erlernendes mit allen Sinnen und sinnvoll handelnd gut in der körperlichen Erfahrung zu verankern. Heinrich Pestalozzis (1746-1827) „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ ist insbesondere im Vorund Grundschulalter wichtig(6).

Bildschirmmedienerfahrungen werden ausschließlich über das Sehen und Hören vermittelt. Doch sogar diese beiden Sinne werden ungenauer und flacher angesprochen: Filme sind schlechter mit dem Ton synchronisiert und der

Ton kommt nicht aus dem scheinbar sprechenden Mund auf dem Bildschirm, sondern aus den Lautsprechern daneben. Bildschirmmedien eignen sich also nicht einmal dazu, die Fähigkeiten des Hinsehens und Hinhörens frühkindlich präzise auszubilden. Riechen, Schmecken, Vibration, Luftzug und Wärmewahrnehmungen sind ausgeschlossen. Wenn wir sitzend auf den Bildschirm blicken, haben unsere Körperwahrnehmungen (Eigenbewegung, Tastsinn, Gleichgewicht) nichts mit der dort abgebildeten Situation zu tun: Mediennutzer werden tendenziell zu bewegungslosen Kopfmenschen, die sich vom Rest ihres Körpers entkoppeln.

Man kann Bildschirmmedienkonsum also als sensomotorische Desintegration bezeichnen: Die verschiedenen körperlichen Sinne lernen ihre Zusammenarbeit schlechter, werden also suboptimal zu einem Werkzeug für das spätere Leben gebildet. Eltern kann man daher sagen: „Wenn Kinder, die sich noch in die Wirklichkeit einleben, viel Zeit vor Bildschirmen verbringen, verarmt und verfälscht dies ihre Wirklichkeits- und Selbstwirksamkeitserfahrungen. Erst wenn sie diese gemacht haben, können die Informationen durch das Medium bereichernd sein.

Bildschirmvermittelte Lerninhalte sind bequemer vermittelbar, verankern sich aber oberflächlicher als sinnlich weitaus realistischere und komplexere Welterfahrungen, vor allem, wenn letztere mit Hilfe eigenen Handelns erworben wurden.

Insbesondere kleine Kinder brauchen die ganzheitliche und körperliche Auseinandersetzung mit der vollen Wirklichkeit, um sich zu körperlicher und psychischer Gesundheit hin entwickeln zu können.“

Bindung

Je mehr Zeit Kinder Bildschirmen widmen, desto weniger kommunizieren sie mit Eltern und Freunden und desto weniger Bindung entwickeln sie zu ihnen. Erfahrungen, die mit diesen Bindungen einhergehen, verstärken die urmenschliche Fähigkeit zur Empathie. Je schwerer Empathie im mitmenschlichen Leben fällt, desto eher kann ein Rückzug in die digitale Welt später zu einem pathologischen Internetgebrauch oder dysfunktionaler Internetkommunikation („Hasskommentare, Cybermobbing“) führen.

Eltern kann man in diesem Zusammenhang sagen: „Auch unsere feinen sozialen Fähigkeiten üben wir ab dem frühesten Säuglingsalter nur im direkten Miteinander.

Darauf gründet unsere mitmenschliche Empathie. Diese wiederum verringert unter anderem das spätere Risiko des pathologischen Internetgebrauchs bis hin zur Internetsucht.“

Spracherwerb

Während des Spracherwerbes muss das Kind lernen, drei sprachliche Ebenen wahrzunehmen, aufeinander zu beziehen und zu erzeugen: Erstens die für sich genommen zunächst bedeutungslosen (aber lautmalerisch wichtigen) Sprachlaute, zweitens die Bedeutung von Wörtern und Sätzen und drittens den auszutauschenden gedanklichen Inhalt hinter den Wort- und Satzbedeutungen. Diese drei Ebenen treten sprachlich immer zusammen auf, können nicht auseinander abgeleitet werden, sind aber unter bestimmten Bedingungen voneinander trennbar: Der gedankliche Inhalt sollte bei einer Übersetzung in eine andere Sprache möglichst gleich bleiben, während die ihn möglichst gut beschreibenden neuen Wörter und Sätze in der neuen Sprache gefunden werden müssen. Die Sprachlaute der ersten Ebene können durch Gesten oder geschriebene Zeichen ersetzt werden. Gestik und Mimik kann sogar Bedeutungen vermitteln, die nicht direkt mit Wörtern in Verbindung stehen.

Erfolgreiches Zuhören und Verstehen geht mit einem Mitvollzug dieser drei Ebenen einher, wie sich anhand synchroner Hirnaktivierungen der Hörzentren, Sprachzentren und frontaler Hirnbereiche bei Sprecher und Hörer zeigen ließ. 

Damit wird verständlich, dass es nicht ohne Folgen bleiben kann, wenn ein (auch im Hintergrund) laufender Fernseher messbar die kindlichen Sprachäußerungen und die Dialoge zwischen Erwachsenen und Kindern vermindert und vom Hin- und Zuhören ablenkt.

Eltern kann man also völlig berechtigt sagen: „Kinder lernen von Geburt an sprechen, wenn Mitmenschen ihnen zuhören und antworten. Sie wollen mit Ihnen gemeinsam die Welt erleben und sich darüber austauschen. Sprechend lernen sie denken, und denkend lernen sie sprechen. Und sie lernen es nur zusammen mit anderen Menschen innerhalb der Situationen, in denen sie interagieren und sprechen. Sie lernen es nicht von Apparaten, die nur so tun, als ob sie interagieren.

Sprechen lernt man also nur aktiv. Dazu muss jemand da sein, der auch zuhört und sich für die kindliche sprachliche Kreativität interessiert, sich an ihr freut und verständlich antwortet.

Krea(k)tivität

Diese frühe, ständige Übung der Kreativität als Teil der menschlichen und menschheitlichen Wirklichkeit ist aber auch in einem noch viel weiter gefassten Sinne wichtig. Denn der Mensch meistert sein Leben nur dann gut, wenn er kreativ ist. Daher fügten wir Kinder- und Jugendärzte in unsere Empfehlungen zu einem achtsamen Bildschirmmediengebrauch den folgenden Satz ein, der über Medienpädagogik im engeren Sinne weit hinausgeht, aber auf diesem Feld besonders oft missachtet wird: „Ermöglichen Sie Ihrem Kind, kreativ zu werden, indem Sie ihm weniger vorgeben.“

Eigenschöpferisches, kindliches Spiel gedeiht in einer sicheren Umgebung, die nicht die Fähigkeit von Kindern unterläuft, spontan zu denken und zu handeln. Dies geschähe, wenn man Kinder dauernd mit Reizen und Handlungsaufforderungen überflutet. Kinder erlangen dann kein Gefühl für ihre eigene Fähigkeit, unabhängig Probleme zu lösen und den Dingen um sich herum Bedeutungen zu verleihen. Alles allzu präformierte Spielzeug kann hierbei hinderlich sein.

Vergleichbar präformiert sind Filmhelden, verglichen mit den Helden, die man sich vorstellt, wenn man einer erzählten Geschichte lauscht. Dies wirkt sich auch auf das nachfolgende Spiel aus, welches an situationsgerechter Variabilität, Innigkeit und damit Qualität verliert. Wenn Kinder mit einem Spielzeug spielen, das eine Figur aus einer Fernsehserie darstellt, spielen sie unkreativ, vor allem direkt nach dem Fernsehen.

Eltern, kann man also sagen: „Kinder schaffen mit der Kraft ihrer Phantasie täglich neue Welten. Einfache, natürliche und unterschiedlich verwendbare Spielsachen unterstützen sie dabei. Kinder üben so eine zukünftige Kernkompetenz. Ein gutes Kinderspielzeug bestehe daher zu 90% aus Kind und zu 10% aus Zeug (sei also umso einfacher, je kleiner das Kind ist). Bildschirmmedien sind das Gegenteil davon: Schon eine erzählte Geschichte regt dazu an, dass sich Kinder individuelle innere Bilder machen, während dieselbe Geschichte als Film einheitliche äußere Bilder in die kindliche Vorstellungswelt transplantiert. Hat man eine Geschichte einmal als Film gesehen, wäre ein Leseerlebnis nachher weniger ein eigenes.“

Fazit und Ausblick

Die primäre Sinnes- und Motorikentwicklung sowie die Sprach- und Denkentwicklung sollten also fortgeschritten sein, bevor Eigenaktivität und Selbstbildung an der Welt durch Bildschirmmedien erschwert werden.

Dr. Till Reckert

Kinder- und Jugendarzt 

72764 Reutlingen
E-Mail: till.reckert@icloud.com

Gekürzter Nachdruck aus: T. Reckert, S. Schwarz, U. Büsching, D. Martin „Bildschirmfrei bis Drei“ (2020) in: Kinder- und Jugendarzt, S 195-199. Literatur beim Erstautor. 


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