Frühförderung
Zahlreiche Eltern stellen sich gern schon ganz früh vor, wie ihr Kind später einmal idealerweise zu sein hat… oder wenigstens, wie es sein könnte. Also schmieden sie Pläne. Weil es für die Kleinkinderzeit aber natürlich noch an durchgestylten Zukunftsvisionen mangelt, „planen“ die allermeisten vorsichtshalber zunächst mal ein kluges, braves und vielleicht schließlich ein erfolgreiches Kind. Dabei bliebe natürlich gleich die Frage zu klären, was man sich unter „erfolgreich“ so vorstellt. Wodurch definiert sich Erfolg? Vielleicht durch die eigenen Misserfolge? Vielleicht durch das, was grade gesellschaftlich gefordert wird? Ich persönlich wäre da ja schlicht für ein „glückliches Kind“…
Aber da haben wir´s schon: Im Wort „fordern“ steckt ja schon mal das „Fördern“ drin. Deswegen kommen immer mehr Eltern auf die geniale Idee, ihr Kind zu fördern. Möglichst früh zu fördern natürlich…
Frühmeldung
So, wie Mama Isabel: Sie ist jetzt im siebten Monat und freut sich schon sehr auf ihren Jungen. Klar: das Geschlecht des „kleinen Stöpsels“ wurde schon ganz früh geförd… Entschuldigung: ganz früh bestimmt!
Die Zukunfts-Pläne für das süße Kind im Landeanflug laufen klarerweise schon jetzt auf Hochtouren. Wichtigster Modus: „Samuel – ja der Name steht natürlich auch schon fest – soll es einmal besser haben, als ich!“
„Deshalb haben wir dich, kleiner Liebling“, flüstert Isabel voller Stolz in Richtung Bauchnabel, „schon gestern an der hiesigen Uni für‘s BWL-Studium angemeldet! Man weiß ja nie, wegen der Plätze und so!“
Guter Plan, Mom! Das nenne ich doch mal einen fetten Lebensinhalt mit Frühanmeldung! Und so durchdacht! Samuel wird also später mal Wirtschaftler, a.k.a. „Gewinnmaximierer“. Gut so! Solider Beruf. Da kann man nix meckern… und wir Wiener meckern gern, besonders, wenn wir den Beruf Heilpädagoge innehaben.
Aber Isabel lässt sich da sowieso nix dreinreden. Deshalb ist auch für sie klar: Für diesen frühen Lebensplan muss eine frühe Förderung her.
Frühwarnung
Doch davor warne nicht nur ich, sondern immer mehr Fachleute! So, wie beispielsweise Prof. Dr. Gerald Gerald Hüther. Seit mehr als 20 Jahren versucht er, Eltern rauf und runter vor dem um sich greifenden Frühförderungs-Hype zu warnen. In seinem 2018 erschienenen Buch mit dem knappen aber schönen Titel „Rettet das Spiel“ erklärt er unter anderem wie folgt:
„…mit frühem Sprachunterricht, intelligenzförderndem Spielzeug und regelmäßigen Musikstunden versuchen zahllose Eltern eine „maßgeschneiderte Entwicklung“ voranzubringen. Sie machen das Kind von einem Subjekt zu einem Objekt ihrer eigenen Bemühungen.
Manche Kinder können schon das ABC auswendig aufsagen oder Rechenaufgaben lösen, bevor sie überhaupt eingeschult werden. Die Eltern klopfen sich dann stolz auf die Schulter und glauben, dass sie alles richtig gemacht haben. Aber…
Eltern rauben ihren Kindern durch planvolles Fördern die wichtigste Erfahrung der Kindheit: Entdeckerfreude!“ (Gerald Hüther)
Ich bedanke mich von Herzen bei Prof Hüther. Aber auch, wenn das schon schwer zu schlucken war, es gibt noch mehr zu bedenken…
Früh-Gewöhnung
Was viele gar nicht im Fokus haben, ist die seltsam rasche Eingewöhnung des kindlichen Gehirns. Es nimmt erstaunlich rasch das an, was ihm konsequent angeboten wird. Ich nenne diese Erkenntnis aus der Neuro-Wissenschaft gerne liebevoll, den „Junkie-Effekt“.
Das ist auch mit Förderung so: Je früher und je mehr ein Kind durch Erwachsene gefördert wird, desto eher mutiert es zum Förder-Junkie. Es will dann auch später weiter gefördert werden und erwartet das ganz selbstverständlich nicht nur mit zarten fünf Jahren, sondern auch mit 12 oder mit 16, mit 26 oder 46: „Bitte fördert mich! Ich brauche neue Inputs! Nicht meine – Eure!“ Genau das meint Prof. Hüther, wenn er von geraubter Entdeckerfreude spricht!
Früh-Irrtum
So, das war´s schon mit meiner heutigen Nörgelei! Aber sauber aufräumen muss ich natürlich noch. …und zwar mit dem sehr verbreiteten Irrtum: Es sei Aufgabe der Eltern, den Geist ihres Kindes zu formen. Nein! – No! – Njed! – Nada! … Falsch gedacht!
Die wichtigste Aufgabe als geliebte Bezugspersonen unserer Kinder ist es vielmehr, ihnen die Möglichkeit zu bieten, ihren Geist eigenständig zu entwickeln! Mit anderen Worten: Sich seine Welt selbst zu erschließen… unter unserer Begleitung. Modern ausgedrückt könnte man sagen: Unter unserem behutsamen Coaching! Die Betonung liegt hier auf dem Wort „behutsam“.
Entschuldige, liebe Isabel, du bist sicher die liebevollste Mom von hier bis Nebraska, aber deine Pläne mögen vieles sein, nur nicht behutsam. Deshalb verpasse ich, als dein Coach, den ehrgeizigen Zukunftsplänen für deinen ungeborenen Sonnenschein jetzt mal ein Ablaufdatum.
Und das, liebe Leserinnen und Leser, sollten Sie, sofern Sie für Ihr Kleinkind schon solide Entwicklungspläne geschmiedet haben, ebenfalls tun. Tolle Zukunftspläne sind ab jetzt abgelaufen! Gehen Sie stattdessen ganz entspannt an den „Lebenslauf“ heran. Sehen Sie unaufgeregt und mit viel Freude im Herzen zu, welche eigenen Schritte Ihr Kind unternimmt und welche Hingaben, aber auch, welche Weigerungen es zeigt. Daran können Sie vielleicht bald ermessen, wohin die junge Seele sich aufmacht. Genießen Sie diese ungeförderten Aha-Erlebnisse und das eigene Staunen.
Sie werden es mögen!