Sicher kennen Sie jene Klettergerüste aus dicken Tauen, die wie ein kuppelartiges überdimensionales Spinnennetz über den Boden besonders großer Spielplätze gespannt sind. Als ich beim Spaziergng an einem solchen vorüber kam, lag ein vielleicht fünfjähriger Junge in mehr als zwei Metern Höhe oben auf den Seilen, während seine Mutter genau unter ihm stand. Sie zeigte ihm, wo er jetzt mit dem linken Fuß hintreten und dann mit der rechten Hand hingreifen sollte, um weiterzuklettern. Keinen einzigen Schritt und keinen einzigen Griff konnte der Kleine alleine tun. Sein Gesichtsausdruck war nicht sehr glücklich. Er sah aus, als sei er gelangweilt. Immer wieder guckte er in die Ferne und ich weiß nicht, ob er eigentlich gar nicht klettern wollte oder ob ihm nur diese Art des Kletterns nicht gefiel.
Was geschieht eigentlich, wenn ein Kind klettert? Es muss die Stellen aussuchen, auf die es tritt und die es anfasst. Es muss seine Körperkraft dosieren und sie mit bestimmten Bewegungen abstimmen. Es muss sein Gleichgewicht taxieren und immer wieder ausbalancieren. Es muss vorwärts schauen, um den nächsten Schritt zu planen; es muss zurückschauen, um sich zu vergewissern, wie weit es schon ist. Es muss aber auch dieses Kribbeln in sich spüren, die Aufregung, die es bedeutet, wenn man den sicheren Boden verlassen hat und immer höher steigt. Es muss prüfen, was größer ist: die Neugier und der Kick des Kletterabenteuers oder aber die Angst vor der Höhe und dem möglichen Absturz. Wenn ein Kind das tut, ohne dass jemand seine Tritte und Griffe steuert, dann bedeutet das eigene Erfahrung – die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Denn wenn ich Kraft einsetze und dadurch vorankomme, erlebe ich, wie ich wirksam bin.
In der Situation, die ich beobachtet habe, konnte der Kleine aber gar nicht selbst wirksam sein. Seine Mutter sagte ihm ja ständig, wo er hintreten und hingreifen sollte. Er konnte keine eigene Entscheidung treffen. Auf diese Weise machen Kinder nicht nur keine Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, sondern sie entwickeln auch kein Selbstvertrauen. Nur wer alleine klettert, lernt, dass er seinen Griffen und seiner Kraft vertrauen kann. Selbstvertrauen ist eine Basiskompetenz unserer Persönlichkeit. Wer über kein Selbstvertrauen verfügt, tut sich in allem schwer, was das Leben an Herausforderungen bietet, ob es um das Lernen in der Schule geht oder um die Planung von künftigen Lebensperspektiven in späteren Jahren.
Und noch etwas passiert, wenn die Mutter das Kind derart instruiert: Der Junge kann nicht lernen, wie er seine Kraft dosieren und seine Schritte planen muss. Motorisches Tun, ob Krabbeln, Laufen, Klettern oder Springen, ist immer eine Einheit von Sinneswahrnehmung und motorischer Steuerung. Die Wahrnehmung erfolgt mit allen Sinnen, die uns zur Verfügung stehen. Ich muss nicht nur sehen, wo ich hintrete oder hingreife, sondern auch spüren, ob ich im Gleichgewicht bin, ob ich zusätzliche Kraft investieren muss oder mit ihr nachlassen kann. Dieses Zwiegespräch zwischen Sinneswahrnehmung und Steuerung der Motorik kann sich nur entwickeln, wenn ein Kind selbstständig motorisch aktiv ist. In diesem Fall jedoch, wo die Mutter das Klettern „coacht“, findet es nicht statt. Sie lenkt die Wahrnehmung des Jungen und er soll ihre Kommandos befolgen. Deswegen kann sich auf diese Weise überhaupt keine motorische Geschicklichkeit entwickeln.
Die doppelte Problematik, dass weder Selbstvertrauen noch motorische Geschicklichkeit wachsen können, beeinträchtigt das Kind in seiner psychomotorischen Entwicklung massiv. Haben Sie schon mal mit Blechspielzeug gespielt? Mit diesen kleinen Autos, Hampelmännern oder Trommlern, die man mit einem Schlüssel aufzieht? Jeder, der so etwas kennt, weiß, dass man sie nicht nur aufziehen darf, sondern auch laufen lassen muss. Denn wer nur aufzieht und die innere Feder unter Spannung setzt, ohne dass sie die Spannung abbauen kann, bewirkt, dass sie allmählich in ihrer Spannkraft nachlässt. Dann ist der Zeitpunkt absehbar, bis dieses Blechspielzeug nicht mehr richtig funktioniert. Ähnlich ist es bei uns Menschen: Wer ein Kind aufzieht (im doppelten Sinn des Wortes), muss es auch laufen lassen. Nur Kinder, die selber stehen und selber laufen, können selbstständige Selbstläufer ihres eigenen Lebensweges werden.